#FFT N°94 | SEJ A MENSCH

02.02.2024

Die Zeiten sind mal wieder sehr turbulent:

Krankheitsbedingt, geschäftlich wie eigentlich immer wieder mal, in unserem Land erleben wir Dinge, die wir eigentlich nie wieder für möglich gehalten haben und unsere BANI-Welt mit ihren Krisen von Klima über Ukraine bis nach Israel wird schon fast zu unserem New Normal. Mein Januar 2024 war jedenfalls nicht nur deshalb krass.

Deshalb gibt es auch erst heute am 02.02. den 02. #FFT diesen Jahres von mir.

(...vielleicht ist die 02 statt 42 die Antwort auf alle Fragen.  )

Ich habe diese Woche eine Antwort, einen Satz, eine Aufforderung im Rahmen einer Rede gehört, die mich total abgeholt und mitgenommen hat. Und vielleicht ist das tatsächlich statt 42, 02 oder allen anderen möglichen Antworten DIE Antwort auf alle Fragestellungen unseres (beruflichen) Lebens als Orientierung:

Sej a Mensch. (Sei ein Mensch.)

Marcel Reif hat diesen Satz im Rahmen seiner Rede zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag gehalten. In vielerlei Hinsicht ist das sicher eine der besten Reden, die ich bisher in meinem Leben gehört habe. Rhetorisch, professionell, den Ton treffend, inhaltlich, aber vor allem eines: menschlich.

Und weil sich diese #FFT in der Regel ja auch um menschliche Aspekte in unserer (Arbeits-)Welt bewegen, möchte ich Euch heute gerne das Ende dieser Rede teilen. 

[...]

Ich glaube, die Vergangenheit habe ich erst 50 Jahre später wirklich angenommen in den Gesprächen mit meiner Mutter. Wobei - Gespräche? Ich brauchte für ein Buch ein paar Erläuterungen von ihr, Präzisierungen, Abgleich von Jahresdaten. Es wurden drei Tage daraus. Sie hat erzählt, und ich habe zugehört. Wir haben viel gelacht und noch mehr geweint. Und sie hat am Ende bestätigt, besiegelt, was mein Vater gewollt und geschafft hatte, nämlich: Es durfte nicht sein, dass auch noch seine Kinder von den furchtbaren Schatten heimgesucht, gequält werden, die seine Kindheit und Jugend verdunkelt, zerstört hatten. Wir sollten, wir durften nicht in jedem Postboten, Bäcker, in jedem Straßenbahnfahrer oder Lehrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten. Eine behütete, unbelastete, unbeschwerte Kindheit sollte es sein, musste es sein.

Und: Er wollte diesen verschlossenen Raum in unserem Lebenshaus auch nicht mal einen Spalt breit öffnen - auch nicht für die „guten Geister“, die darin ja ebenfalls wohnten: So hatte ihn der spätere Krupp-Manager Berthold Beitz aus einem Todeszug Richtung Vernichtungslager geholt und ihm damit das Leben gerettet. Ohne Beitz würde ich heute nicht hier stehen.

Oder: Vor ein paar Jahren sprach mich ein Mann hier in Berlin auf der Straße an, ob ich ein paar Minuten Zeit hätte für einen Kaffee, er wolle mir etwas über meinen Vater erzählen: Auf der Flucht durch die Wälder hatte Vater ihn, den Vierjährigen, auf den Schultern getragen und ihm so das Leben gerettet. - Das alles weiß ich heute.

Und noch etwas habe ich endlich - viel zu spät! - erkannt, begriffen, und das ist, was zählt: Ich erinnere mich nicht an den Anlass und nicht an den Zeitpunkt, aber mir wurde irgendwann beinahe schlagartig klar, dass mein Vater ja doch gesprochen hatte und mir all das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war; was er gerettet hatte, als Essenz destilliert aus all dem Unmenschlichen der Häscher und Mörder, aus dem Übermenschlichen eines so mutigen Berthold Beitz, aus dem, was er selbst geleistet hatte mit dem kleinen Jungen, der seine eigene Menschlichkeit abgefragt hatte. Das alles hat er in einen kleinen Satz gepackt. Und ich erinnere mich täglich mehr daran, wie oft er mir diesen Satz geschenkt hat - mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: „Sej a Mensch!“ - „Sei ein Mensch!“

Dein Schweigen, deine Lebensfreude trotz allem, deine ungebrochene Fähigkeit, uns so viel Liebe und Fürsorge zu geben - und dieser Satz: „Sei ein Mensch!“ -, dafür danke, Papa! Und ich bin stolz, dass ich meinen Söhnen und Enkeln, die da oben sitzen, dieses Vermächtnis ihres Groß- und Urgroßvaters habe offensichtlich weitergeben können.

(Beifall)

Und wenn Sie es mir erlauben und wenn Sie mögen - gerade heute aus diesem Anlass und gerade hier in diesem höchsten deutschen Hause -, dann lass ich Ihnen den kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz, den mein Vater, Leon Reif, gesagt hat, dann lass ich Ihnen diesen Satz hier: „Sej a Mensch!“ - „Sei ein Mensch!“

(Anhaltender Beifall - Die Anwesenden erheben sich)

 

In diesem Sinne 

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